Neutral statt kriegsverlängernd

Über das strategische Abkommen USA-Ukraine, Waffenhilfen und die Schweizerische Neutralität

20. April 2024. Nun hat das US-Repräsentantenhaus zugestimmt, dem Waffenpaket von 61 Milliarden Dollar (!) zur Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland.

Die Schweiz ist offiziell neutral zwischen kriegsführenden Staaten, folglich bräuchte dies hierzulande niemand zu kommentieren. Und doch: Es gibt eine Diskussion. Es jubeln bei uns zahlreiche Politikerinnen und Politiker, fordern, dass auch die Schweiz (nur der Ukraine) mehr helfe und russische Oligarchengelder jage und blockiere. Siege die Ukraine nicht, ertränken wir in einem Flüchtlingsstrom, sagen sie. Verschiedene Offiziere erheben angesichts der pointierten westlichen Zusammenarbeit in diesem Konflikt die Forderung, die Schweiz müsse mit der Nato zusammenarbeiten, die Neutralität solle nicht unanständig sein – müsse überdacht werden.

Dieser Text ist ein Beitrag zur Disskussion.

Wer hat den Krieg begonnen?

Diese Frage ist müssig. Nicht weil sie klar zu sein scheint, sondern aus Sicht eines Neutralen: Wenn sich zwei auf dem Pausenplatz rammeln, ist für die streitschlichtenden Lehrpersonen nicht wichtig, wer zum ersten Schlag ausgeholt hat und dass nun der andere gewinnt, sondern, dass die Sache ohne weiteres Leid und für immer beendet werden kann. Das geht nur, wenn beide Rammelnden die Würde wahren. Und das bedeutet erstens ein Waffenstillstand und zweitens muss man beiden Seiten ernsthaft zuhören und dann eine gemeinsame Lösung finden. Das ist immer möglich.

Aber hier handelt es sich nicht um Schuljungen, sondern um souveräne Staaten, und für die meisten aus dem Westen, die im Kreis um die Rammelnden herumstehen und diese anfeuern, ist klar, wer begonnen hat. «Russland hat zuerst geschlagen. Russland hat die Grenze der Ukraine verletzt.»

Das Problem des Neutralen: Wir sollten keiner Seite die Schuld geben.

Vor dem eigentlichen Einmarsch Russlands in die Ukraine wütete seit 2014 der Bürgerkrieg in der Ukraine, forderte je nach Quellen und Zählung bis zu 20’000 Opfer. Seit der russlandfreundliche Präsident anfangs 2014 beim «Euromeidan»1 ausgewechselt (je nach Lesart „weggeputscht“) worden war, hatte Russland und die russischsprachig- und russischstämige Bevölkerung der Regionen Donetsk und Luhansk und auf der Krim ein Problem: Die Bevölkerung war in diesen Gebieten mehr Russland als dem Westen zugewandt (und je länger sie kämpfte, desto mehr brachte sie den Rest des Landes gegen sich auf), weshalb 2019 das Russische als Amtsprache abgeschafft wurde (Eingeführt wurde es neben dem Ukrainischen 2012, aber zuvor gab es gar kein Gesetz über Amtssprachen) und die heutige Regierung gewählt wurde, die mit dem Konflikt aufzuräumen versprach.

Für Russland geht es um mehr als die Bevölkerung. Die Region ist strategisch wichtig. Bietet Zugang zum Schwarzen Meer. Die Krim war immer schon Ferienort für Einflussreiche und besitzt den wichtigen Hafen Sewastopol – keine russische Regierung kann diese einem westlichen Land überlassen. So antwortete Russland unmittelbar nach dem Euromeidan mit der Annexion der Krim und unterstützte die Unabhängigkeitskämpfenden in der Ostukraine.
Irgendwann wäre wohl die Grenze neu gezogen worden, die Ukraine hat seit jeher einen eher westlichen und einen eher östlichen Teil und verschiedene Sprachen.

Doch 2021 wendete sich das Blatt. Nicht nur wegen der neuen Regierung in Kiew, die energischer gegen Donetsk und Luhansk vorging, sondern, weil im September ein strategisches Abkommen USA – Ukraine verhandelt wurde, welches im November 2021 unterzeichnet wurde. Es lohnt sich, dieses etwas genauer anzuschauen.

Strategisches Abkommen USA – Ukraine vom November 2021 (Link zum Text)

Darin enthalten sind u.a..

  • die eigentlichen militärischen Zusammenarbeit (Ausbildung, Technologie, Geheimdienst, finanzielle Mittel „Security Assistance Package“,…)
  • die Unterstützung der Ukraine Richtung Nato-Mitgliedschaft und 
  • das Versprechen, die Krim und Donetsk und Luhansk als russisches Staatsgebiet niemals zu anerkennen und die Ukraine in dieser Frage (diesem Kampf) zu unterstützen.

Aus russischer Sicht bedeutet das:

  • Weitergehende Aufhebung des „neutralen“ Gürtels von nicht Nato-Staaten entlang der russischen Grenze
  • Ukraine wird mittelfristig zur Nato-Armee: Die geografische Lage der Ukraine macht es ein Leichtes, den Schwarzmeerzugang Russlands zu kappen. Anmerkung: Auch bei Petersburg – Ostsee – oder Murmansk – weisses Meer – sind die Meerzugänge Russlands nur wenig von westlichen Staaten (Baltikum, Finnland, Norwegen) entfernt. Doch Russland ist im westlichen Teil bevölkerungsreich und entwickelt und will dort unerpressbar bleiben. D.h. Russland verliert mit dem Abkommen Ukraine-USA defintiv die Rolle einer strategisch bedeutenden und autonom handlungsfähiger Weltmacht.  
  • Eine einseitige Wahrnehmung der Vorgeschichte, bei welcher man bei fairer Betrachtungsweise wohl auch das kriegerische Vorgehen der Ukraine gegen die russische Minderheit – im Osten und auf der Krim aber Mehrheit – gegen die eigene Bevölkerung – gewichten sollte. 

Russland teilte seine Forderungen und Bedenken – chancenlos – kurz vor dem Krieg in Genf (Treffen Biden-Putin) mit und blitzt ab. Wie hätte Russland weiter reagieren können/sollen? Angesichts der Tatsache, dass das Abkommen US-Ukraine wohl rasch Wirkung entfalten wird und dann die Krim und die Ostukraine defintiv verloren sind? Wie hätten Sie als russische Regierung gehandelt?

Vermutlich hat sich die russische Führung verschätzt und der Angriff im Februar 2022 hätte anders stattgefunden, wenn sie die Widerstandskraft der Ukraine gekannt hätte dank der westlichen Unterstützung, welche das Land erfuhr. Hier die bislang für und vor dem Krieg geflossene militärische Unterstützung an die Ukraine aus dem Westen. Eine beachtliche Liste (Link)
Nun kommen nochmals 61 Milliarden dazu. Wie wird hier wohl die russische Interpretation aussehen? Ist es ein Konflikt «Ukraine-Russland» oder «Westen-Russland»?

Auch für den Westen scheint es das Zweite. In der westlichen Terminologie («Angriffskrieg», «niemals nachgeben unter Akzeptanz der Gebietsgewinne Russlands») sind, wie erwähnt, die Schuldigen klar. Die strategischen Interessen des flächenmässig grössten Staates auf der Erde, der seine Unerpressbarkeit und Souveränität erhalten will, ist egal – er wird in der öffentlichen Wahrnehmung als drohende Gefahr für den Westen dargestellt, wobei unterstellt wird, dass die Ausbreitung Russlands immer weitergehe. (Gedankenspiel 1: Bitte denken Sie sich dieses Szenario zu Ende: Wenn Russland wirklich Westeuropa erobern würde, Westeuropa also Teil Russlands würde: Binnen Jahren wäre Wladiwostock demokratisch und nicht Berlin, Paris, London autokratisch: Weil sich Menschen überall, selbst in Russland, nach Freiheit und Rechtsstaat sehnen und nach Wohlstand, wie im Westen. Die Ausbreitung Russlands nach Westeuopa wäre unregierbar – der Tod des heutigen Russlands und daher ist dieses Szenario Quatsch.) Umgekehrt fragt kaum jemand: Welches Interesse an der Ukraine haben eigentlich die USA, das einen derart gigantischen Mitteleinsatz rechtfertigt? Geht es allenfalls ebenfall eher um strategische Positionierung als um simple Hilfe aus Barmherzigkeit?

Die Gefahr, dass der Krieg sich nach Westen ausweitet, gibt es allerdings trotzdem: Wenn westliche Staaten sich einmischen. Wenn der französische Präsident Emmanuel Macron, nicht mehr nur den Einsatz von westeuropäischen Bodentruppen in der Ukraine erwägt (soweit sind wir schon), sondern plötzlich seine Fremdenlegion an der Front auftaucht. Ein so grosser Schritt ist dies gar nicht: Betreffend Ausbildung findet die Zusammenarbeit verschiedener westlicher Armeen mit der mit der ukrainischen Armee bereits statt, nur schon, damit die Waffen eingesetzt werden können, welche die Ukraine erhält. Der russische Bär neigt dazu, den Stachel in seinem Fleisch zu ziehen, wenn er kann. Deshalb hat der Krieg das Potential der Ausweitung. Und die Nato spielt mit diesem Feuer .

Für uns als neutrale Schweiz spielt das „wer hat Recht und wer hat begonnen und wer will wem was“ keine Rolle. Das ist meine Meinung. Die Übernahme der westlichen Sicht und Angst ist sachlich genau so falsch, wie die blosse Übernahme der russischen Betrachtungsweise, die ich nun geschildert habe. Die Gegenposition ist auch richtig: Die Souveränität der Ukraine wurde schlussendlich verletzt und die Mehrzahl der Menschen in der Westukraine wollen keine russische Besatzung. Ein nachhaltiger Friede ist nur denkbar, wenn beide Seiten ihre Würde bewahren – und das geht schlussendlich nur unter Einbezug beider Sichtweisen, auch der Russischen.

Pro Militia – Friedensinvestitionen statt Friedensdividenden

Nicht nur verschiedene Politikerinnen und Politiker, sondern bereits auch mehrfach die Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ) und nun jüngst und überraschenderweise die Vereinigung Pro Militia, welche immer für eine schlagkräftige und neutrale Armee eingestanden ist – wünschen sich gerade jetzt, wo der Ukrainekrieg die Zusammenarbeit westlicher Kräfte pointiert – die Diskussion über die Neutralität. Hierzu eine Boschüre der Strategiekommission von Pro Militia. Folgendes die Botschaft: Die Schweiz muss mit Nachbar- und Natostaten militärisch zusammenarbeiten, darf keine Neutralität vertreten, die von anderen als unanständig wahrgenommen werden könne. Die Schweiz wird in Europa mitgeschützt und muss dazu einen Beitrag leisten.

Argumentiert wird namentlich mit den modernen, weitreichenden Waffensystemen, die eine Verteidigung der Schweiz im Vorgelände notwendig machen – ein Denkfehler der Offiziere: Die Unversehrtheit der Schweiz war immer ein sicherheitspolitisches Ziel – nicht ein militärisches. Militärisch reicht es, den Eintrittspreis für mögliche Gegner zu hoch zu setzen: Wird die Schweiz – absichtlich und in gewissem Umfang – angegriffen (auch mit weitreichenden Waffen) – erst dann – verlässt unser Land die Neutralität und wird zur Gegenpartei und geht entsprechende Bündnisse ein. Die Feinde des Feindes werden zu unseren Bündnispartner und gewännen eine nützliche Infrastruktur im Zentrum von Europa: Ein Sofort-Nachteil für wer immer uns angreift. Dazu kommt: Auf unserem Territorium werden unseren Gegnern hohe Verluste zugefügt. Insgesamt werden so Angriffe abgehalten, da sie sich schon gar nicht lohnen. Die Broschure der Pro Militia erwähnt diese über Jahre bewährte Strategie der Dissuasion mit keinem Wort.

Der Verlust eines neutralen Staates, der echte Verhandlungsoptionen offen hält, auch Zahlungswege/Handlungsplattformen/Austausch selbst für alle Kriegsparteien ermöglicht (also Sanktionen nicht vollumfänglich mitträgt), der das Eigentum und Vermögen aller Kriegsparteien schützt, der Sitz humanitärer Organisationen ist – und diese Dienstleistungen zum Wohl der Menschheit anbietet – und der bei Verletzungen seines Territoriums erst noch hohe Verluste für Angreifer fordert und so lange unangegriffen für alle Kriegsparteien garantiert, dass nicht eine andere Partei Vorteile aus einem Angriff gegen den Neutralen gewinnt – ein solcher Verlust wird Kriegsparteien von offenen Angriffen abhalten. Damit das funktioniert sind zwei Zutaten nötig: Eine möglichst vollumfängliche Neutralität und eine starke Armee in unserem eigenen Gelände. 

Die Diskussionen über die Aufgabe der Neutralität hingegen sind Gift für den sicherheitspolitischen Schutz der Schweiz.

Wir erleben im aktuellen Konflikt, dass es nicht mehr gelingt, Russland an den Verhandlungstisch in der Schweiz zu bewegen, weil die Schweiz teilweise die Sichtweisen der Nato-Staaten übernahm und mehr als nötig kooperiert. Wir helfen einseitig, laden nach Bedingungen der westlichen Länder ein, auch die offizielle Schweiz äussert ihre Sympathie im Konflikt klar (was Einzelpersonen natürlich dürfen).

Gedankenspiel 2: Wären wir militärisch tiefer vernetzt mit Natostaaten: So lange “der Westen“ gewinnt, wäre das für uns gut. Zumal wir keine eigenen Soldaten in den Konflikt schicken, und nicht den wahren Preis für die Sicherheit bezahlen. Dieses Rosinenpicken wird nicht haltbar sein, sollten in befreundeten Staaten Tote von einer Front zurückkommen. Eine Alternative zum Sieg des Westens gibt es als Teil des Bündnisses nicht.

Dabei gibt es sie, die Alternative zum Sieg: Wie wäre es stattdessen mit einem Ende des Krieges?

Statt in das Dilemma zu kommen, mehr und mehr mitmachen zu müssen auf der «Seite der Guten», ist angesichts der bereits auf beiden Seiten zusammengenommen wohl rund einer halben Million brutal geschlachteter junger Männer an der Ukrainisch-Russischen Front – die Strategie der Dissuasion und wirklichen Neutralität weit besser für uns – und ich bin überzeugt, auch für die Menschheit. Denn es geht uns nicht darum, zu siegen, sondern wir helfen, den Krieg schon vorher zu beenden.

Fakt ist – für beide Strategien (Neutralität und Dissuasion vs. Ausbau der militärischen Zusammenarbeit) – braucht es eine zumindest in den eigenen vier Wänden kampfkräftige Armee. In diesem Punkt hat die Strategiekommission von Pro Militia Recht. 

Und was machen wir gegen den eingangs ins Feld geführten Flüchtlingsstrom? Verständigung nach dem Krieg, Friede und Wohlstand helfen dagegen. Wir können einen Beitrag leisten, um diese Faktoren zwischen befeindeten Ländern aufzubauen. So wie jene für Frieden sorgen, die bei zwei zankenden Jungen auf dem Pausenplatz nicht um diese herumstehen und einen davon anfeuern, sondern sich stattdessen für Konfliktlösungen stark machen.

Natürlich hilft gegen den Flüchtlingsstrom auch, dass wir keine Flüchtlinge mehr aufnehmen werden, wenn der Krieg zu Ende ist – egal wer „gesiegt“ hat. Aber das ist dann eine andere Geschichte, in welcher sowohl eine unabhängige Politik als auch ein baldiger Friede eher von Vorteil sind.


  1. Euromeidan: Die Revolution Ende 2013 wurde ausgelöst, weil es der Bevölkerung vor allem im landwirtschaftlich geprägten Westen des Landes (und eben weniger im industriell geprägten Osten), wirtschaftlich miserabel ging und der westliche Landesteil sich nach Europa sehnte. Der Präsident verweigerte dann die Unterschrift unter ein Assozierungsabkommen mit der EU. Es kam zu Protesten, Sicherheitskräfte schossen auf Protestierende, schliesslich wurde er abgesetzt. Später wurden auch russlandfreundliche Gegenprotestierende umgebracht (Mai 2014, Odessa, 42 Menschen verbrannt, wurde juristisch nicht aufgearbeitet). Die westliche Haltung dem Putsch gegenüber war wohlwollend. ↩︎


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