Geostrategie

Nicht Waffengewalt, sondern Freundschaft und Respekt bestimmen, welche Haltungen sich in der Welt verbreiten! Die Schweiz muss zurück zur Neutralität!

Nachdem die Weltwoche das Interview von Tucker Carlson mit Vladimir Putin im Februar in voller Länge abdruckte, veröffentlichte sie anfangs Mai eine Gegenrede des Publizisten Jörg Friedrich. Er sieht den Niedergang des Westens vom Osten kommend und im Lamentieren statt entschlossenem Handeln.

Zwei Texte, zwei gegensätzliche Geschichtslektionen und bei beiden nickt man und sagt: So war’s und ist’s. In Fakten widersprechen sie sich nicht, in Interpretationen wohl.

Wenn, was Friedrich vermutet, es nicht gelänge, Russland in der Ukraine in die Schranken zu weisen, sieht er neben der Ostukraine und der Krim zwei weitere Ausdehnungen Russlands auf den Westen zukommen: Transnistrien (ein schmaler Streifen Moldawiens, der schon seit 1990 faktisch unabhängig ist und die Mehrheit der Bevölkerung der Sowjetunion nachtrauert) und ein Korridor, um Belarus mit der von der Nato umschlossenen russischen Enklave Kalingrad zu verbinden.

Wäre das Gelingen dieser beiden Annexionen der Kniefall und Niedergang des Westens, der den irrwitzigen Menschenverschleiss in den Schützengraben der Ukraine heute lohnt?

Russland sei, postuliert Friedrich, in die Zeit von 1991 zurückgefallen. Russland wird tatsächlich auch mit Menschenrechtsverletzungen, mit Einschüchterung, Folter und Mord geführt. Aber Friedrich irrt trotzdem: Weder der eiserne Vorhang noch die Planwirtschaft sind zurück: Sicher leben, lieben, sich um die Familie und Arbeit kümmern, sind für die 144.2 Millionen Einwohner Russlands das Wichtigste – wie überall auf der Welt. Diese Sicherheit ist der russische Staat immerhin bemüht zu installieren.

Die grosse Mehrheit der Russinnen und Russen leben in Europa. Die russische Wirtschaft spielt in Europa. Und vier Meerzugänge hat Russland in Europa: Murmansk, abgelegen, am Ende einer einzelnen lange Strasse, die rund 70 Kilometer parallel zur finnischen Grenze verläuft. Petersburg, zwischen Finnland und Estland, die erwähnte Enklave Kalingrad und der Streifen zwischen der Ukraine und Georgien, wobei einer der wichtigsten von Russland genutzten Häfen, Sewastopol, auf der Krim liegt. Nur Kalingrad und die Häfen am Schwarzen Meer sind das ganze Jahr eisfrei.

Ist es nun dem russischen Bären zu verübeln, dass er für seine 144.2 Millionen Menschen ein paar Anschlüsse an den Welthandel sucht, ohne dass ihm jemand genau dort in den Pelz sticht (Krim)? Hat der Bär überhaupt eine andere Wahl, als solche Stachel zu ziehen und seine Meeranschlüsse zu sichern? Die Ukraine hat drei Monate vor Kriegsausbruch mit den USA ein strategisches Abkommen geschlossen unter anderem mit folgendem Punkt: Die Krim wird niemals als Russland zugehörig anerkannt, und mit Waffenlieferungen und militärischer Zusammenarbeit. Was hätten Sie an Putins Stelle getan?

Statt neben allen russischen Meeranschlüssen Nato- oder US-Militär zu stationieren (Nato-Beitritt Finnlands 2023), statt Regionen mit einer Mehrheit an russischer Bevölkerung in anderen Ländern (Krim und Donbass in der Ukraine, Transnistrien in Moldawien) bekehren zu wollen, im Donbass seit 2014 mit Waffengewalt, könnte man doch einfach den Bär zur Tränke lassen. Ein Kniefall des Westens wäre das nie und nimmer!

Im Gegenteil. Es wäre sogar schlau. Auch dann muss noch jedes russische Handelsschiff mitten durch Natogebiet im Skagerrak oder Bosporus.

Wenn Russland stattdessen im Osten Versorgungspartner findet, verlieren Europa und die Welt und die Menschenrechte. Denn Wandel durch Handel ist keine Strategie, sondern passiert. Lieber unsere freien Demokratien beeinflussen einen autoritären Staat als die Autoritären sich gegenseitig! 560 Millionen freiheitsgewohnte Einwohnerinnen und Einwohner in 48 Demokratien des restlichen Europas sind durch Tourismus, Reisen und Handel mit den 144.2 Millionen Russinnen und Russen nicht bedroht. Nicht Waffengewalt, sondern Freundschaft und Respekt bestimmen, welche Haltungen sich in der Welt verbreiten!

Und wenn es doch zur Waffengewalt käme? Dann wäre es klüger gewesen, die Natostaaten hätte die Waffen für die eigene Verteidigung gespart und klare Grenzen markiert, statt in der Ukraine verschleudert, aus Angst, es handle sich um Vorgelände.

Wohlgemerkt:

Als Schweiz kann uns das egal sein: Wir müssten zurück zur Neutralität.

Bezüglich der Boykotte ist die ein Balanceakt: Egal ob die Schweiz mitmacht oder nicht: Beide Haltungen nützen oder schaden der einen oder der anderen Kriegspartei. Wobei: Wenn wir schon neutral sind: Warum boykottieren wir dann die Ukraine nicht? Zahlungen und Waffenlieferungen einseitig an die Ukraine oder an Russland aus der Schweiz wären ein Graus. Und die Konferenz auf dem Bürgenstock darf nicht zu einem Treffen verkommen, wo sich die Feinde Russlands zu Absprachen treffen. Im schlimmsten Fall würde so unser kleines Land aus Geltungssucht, unbedingt eine Rolle spielen zu wollen, zur Kriegstreiberin.

Leider bin ich pessimistisch in allen Punkten.

Matthias Hauser

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