Krieg um die Ukraine: Wer die hergebrachte Neutralitätspolitik der Schweiz in Frage stellt, verdrängt, was Sterben durch die Waffen bedeutet, welche Europa in Kriegsgebiete liefert. Zum Schaden der Menschheit und der Schweiz. Triggerwarnung: Im Text wird Krieg geschildert.
Jeder Panzer, der im Krieg wirklich eingesetzt wird, ist ein Sarg. Die Munition, die ihn früher oder später trifft, sei es von einer Panzerfaust, einer Lenkwaffe, einem anderen Panzer oder eine Rakete, entwickelt kurz vor dem Panzer einen glühenden Strahl aus heissem flüssigem Metall und brennt sich ins Innere. Die Besatzung wird, wenn es soweit ist, wehrlos, in einem heissen Splitterregen verbrannt und zerfetzt, Blut, Schmerz und verbranntes Fleisch als Letztes vor dem Tod.
Schiesst der Panzer auf die Stellung der ihn bekämpfenden Soldaten, ergiesst sich der heiss-flüssige Metallregen über deren Köpfen. Gewehrschüssen, oft nicht wie Bolzen im Schlachthof «Schlag und Tot», rotieren stattdessen im Körper, reissen Innereien heraus, trennen Arme und Beine. Trifft Infanterie auf Infanterie folgen auf die Schüsse Handgranaten, zersieben Männer, bevor der Schützengraben mit dem Gewehr auf Serienfeuer ganz «gesäubert» wird, falls noch jemand lebt und sich wehrt. Der Flammenwerfer diente dem gleichen Zweck (heute «Brandraketen»). Wer vorher schon genauer in den feindlichen Graben schaut, riskiert selbst zu sterben.
Verbrannte, Zerstückelte, Schwerverletzte – Geschlachtete – Sie hatten keine Wahl. Sie wurde eingezogen, Flucht hätte als «Verrat» ebenfalls tödlich geendet. Und natürlich dient ihr Einsatz einem guten Zweck: Der «Befreiung» oder der «Verteidigung» von Territorium, je nach Standpunkt, wer weiss das schon so genau. Und wer will nicht seine Jugendfreunde und Nachbarn unterstützen, die ebenfalls kämpfen. Zudem verdrängt man sein Schicksal, bis es soweit ist.
Vor 20 Jahren waren viele dieser Männer Babys oder Kinder. Zu Hause gibt es Familien und Liebe, Beruf und Alltag. 100’000 dieser Babys und Kinder sind als russische Soldaten im Ukrainekrieg während dem ersten Jahr gestorben, sagt die Ukraine, Russland schweigt. Die Ukraine gibt keine Zahlen zu den «eigenen Verlusten» heraus, es dürften nicht weniger sein. Todeszahlen sind schlechte Werbung, wenn man Nachfolger für die Schlacht sucht.
Sobald Söhne, Brüder, Väter, Mitsoldaten zerfetzt und wir Menschen durch grauenhafte Erlebnisse abgestumpft sind, wird Hass weitergegeben, auch auf und durch die Zivilbevölkerung, es kommt zu völlig sinnlosen Übergriffen. Wir sind empört, suchen Schuldige, steigern damit die eigene Wut gegen die fremden Barbaren, die ja keine Menschen sein können, obwohl auch sie vor 20 Jahren noch Babys und Kinder waren. Ist es ein Wunder, dass so etwas passiert? Nein. Es ist Krieg.
Infanteriekampf habe ich als Zugführer in vielen Übungen zur Panzerabwehr, zum Angriff auf oder zur Verteidigung von Stellungen in der Schweizer Armee trainiert und später als Hauptmann im Bataillonsstab journalistisch begleitet. Ausser einem verstauchten Fuss oder einer Prellung gab es keine Verletzten. Die Feinde waren Zielscheiben aus Karton oder «Markeure», deren Ausrüstung, wenn man sie traf, einen Pfeiffton von sich gab, bis sie rücklings auf dem Boden lagen, niemand soll sterben. Und doch übten wir Töten.
In der Schweizer Armee wird geübt, damit man das Geübte nie anwenden muss. Damit jedem möglichen Aggressor bekannt ist, dass hier wirksam verteidigt wird. Daher ist der Preis für einen Angriff zu hoch, zumal dabei ein neutrales Land verloren geht, das ohne Angriff keiner Kriegspartei feindlich war. So lässt man den Angriff lieber. Dissuasion (Abhaltung) ist die einzige Rechtfertigung, um Gräueltaten, wie sie Soldaten an Soldaten im Kampf verüben müssen, zu trainieren. Da es Gewalt nun mal gibt, braucht es eine Strategie dagegen, die Schweiz hat sie.
Kriegsparteien erhoffen sich immer etwas: Territorialgewinne, Verhinderung der Ausbreitung autoritärer Regierungsformen, Freiheit: Die Ziele des Schlachtens können in unserer westlichen Optik sogar hehrer Natur sein. Trotzdem: Auf der Welt müssen Türen immer geöffnet bleiben, um sie friedlich zu erreichen, um Kompromisse zu finden: Wenn möglich, müssen die Waffen schweigen. Dies gebieten die jungen Männer, die grausam sterben. Die Menschen und Familien, die dadurch psychisch zerstört werden. Menschlichkeit, Gewissen, Christentum. Und die Zukunft unserer eigenen Kinder: Jeder Tod im Krieg bedeutet verletztes Zurückbleiben, Wut. Sind es genug Zurückgebliebene, hört es nie auf: Bald 30 Jahre nach den Balkankriegen braucht es immer noch Schutztruppen. Nach dem ersten Weltkrieg folgte der Zweite, erst zwei Atombomben, welche 100’000 Menschen auf einen Schlag verdampften, stoppten den Wahnsinn. Was wird es brauchen, damit die Menschheit aus dem nächsten Albtraum erwacht? Das macht Angst.
Die Schweiz hat als neutrales Land, als Sitz des roten Kreuzes, als Finanzplatz, der Vermögen von Ost- und West und aller Kriegsparteien verwaltet, als Ort, der sich um gute Beziehungen in Augenhöhe zu allen Parteien bemüht und in der Lage ist, in seinem Territorium Sicherheit zu garantieren, alle Voraussetzungen, um Gespräche immer wieder anzustossen. Um Türen zu Lösungen ohne Waffengewalt zu öffnen. Wir müssen als Land diese Verantwortung wahrnehmen. Dazu muss die offizielle Haltung der Schweiz sein, allen Kriegsparteien in Würde zu begegnen. Auch wenn das Politikerinnen und Politikern schwerfällt, weil sie, logisch und glücklicherweise, immer Sympathien für westliche Demokratien haben.
Im Ukrainekrieg haben wir es nicht geschafft: Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis hat am Samstagabend, 18. Februar 2023, nach der Münchner Sicherheitskonferenz, gegenüber der Tagesschau des Schweizer Fernsehens erklärt, die Schweiz könne nicht vermitteln. Weil die Schweiz, wie die EU, Russland sanktioniert, wird sie nicht neutral wahrgenommen.
Linke Jungpolitiker (Fabian Molina, Nationalrat SP), die nie Militärdienst geleistet haben, reisen in Konfliktgebiete und fordern, dass die Schweiz die Neutralität «überdenke». Einst waren sie gegen die Kriegsmaterialausfuhr in Länder, die nicht im Krieg waren, aber jetzt soll die Schweiz Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine ermöglichen. Ebenso die schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ), das Vereinsmagazin der Offiziere, in der Ausgabe Januar/Februar 2023: Das Abseitsstehen in der Solidarität gegen einen gemeinsamen Feind, die «Schweiz im Schneckenhaus» bewirke, dass wir im Ernstfall auch keine Partner fänden. Zudem sei es schlecht für das Geschäft, keine Waffen zu liefern.
Im Ernstfall müssen uns Partner unterstützen, so die Offiziere. Und dafür haben wir die Fähigkeit geopfert, der Welt eine friedliche Türe offenzuhalten? Sind wir schwach geworden?
Nicht so schlimm, denn andere Länder springen dankbar in die Vermittlerrollen: Möge die angekündigte chinesische Friedensoffensive Erfolg haben, so wie die Türkei verhandelte, als es um Nahrungsmittelexporte aus der Ukraine ging. Möge die Waffengewalt am Verhandlungstisch beendet werden. Wenn dies – hoffentlich – gelingt, sind die Unterdrückung der Demokratie- und Autonomiebewegungen in diesen Ländern, die schützende chinesische Hand über der nordkoreanischen Folter- und Atombombendiktatur, die Säuberung der kurdischen Gebiete in Syrien durch die türkische Armee schon fast vergessen. Da vermittelt niemand mehr, der westlichen Welt bleibt die Wahl zwischen Akzeptanz oder Krieg.
Und so versinkt die Neutralität und mit ihr die Schweiz in Bedeutungslosigkeit für den Weltfrieden, der selbst entschwindet. Unser Land wird niemandem fehlen ausser uns. Auch im Sicherheitsrat hat die Schweiz nichts zu bieten. Und würde sie einst angegriffen oder von einem Schlag gegen Europa mitbetroffen, ist das ja gar nicht mehr so schlimm, für die Welt.
Matthias Hauser, Hüntwangen
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