Achtsam mit der Meinungsvielfalt

Vor zwei Monaten durfte ich hier berichten: Die SVP fordert eine Untersuchung, wie sie im Aargau stattfindet, zum Linksdrall an Kantonsschulen. Der Grund: Zum ersten Mal, wenn auch nur in einer Maturitätsarbeit, wurde festgestellt, dass einige Jugendliche unter der linken Meinungskultur ihre eigene Haltung nicht äussern können, an einer Schule. Die Dringlichkeit wurde unterstützt. Nun kam es am vergangenen Montag zur kantonsrätlichen Debatte, hier das Eröffnungsvotum:

«Sehr geehrte Frau Präsidentin
Sehr geehrte Frau Bildungsdirektorin
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Am Freitag, als irgendwo im Kanton Zürich ein neues Bundesasyldurchgangszentrum gebaut hätte werden sollen, zogen zirka 300 Kantonsschülerinnen und Kantonsschüler durch die Stadt zur Baustelle. «Stopp culture change – Die Schweiz den Schweizern!» so die Parolen. Einige klebten sich mit Sekundenkleber an das Baugerüst. An Unterricht war an diesem Freitag nicht mehr zu denken. Der Rektor und der Schulkommissionspräsident schrieben je einen Leserbrief, in denen Sie dieses Verhalten rechtfertigten. Eine Konsequenz für ihr Schwänzen erlebten die Schülerinnen und Schüler nie, auch nicht die Rechtsradikalen unter den Demonstrantinnen und Demonstranten, die den Sozialstaat abreissen wollen»

Dieses Beispiel ist natürlich frei erfunden. Sie sind sicher mit mir einig, dass eine solche Demo nicht zugelassen werden darf, auch weil die skandierte Haltung Element der Diskriminierung gegen Migrantinnen und Migranten beinhaltet.

Wahr ist aber, dass dies für den Klimastreik so ähnlich stattfand, selbst die beiden erwähnten Leserbriefe wurden geschrieben. An verschiedenen Kantonsschulen wurde gestreikt. Obwohl an diesen Schulen Jugendliche zur Schule gehen, deren Lebensunterhalt direkt, wie fast bei uns allen, wenn man genau hinschaut, von CO2-ausstossendem Gewerbe abhängig ist. Gewerbe wird an den Pranger gestellt.

Wahr ist, dass am 14. Juni, dem Frauenstreiktag, immer wieder statt Unterricht Diskussionen über Frauenrechte, die juristisch schon längst vorhanden sind, stattfinden. Wahr ist, dass jene, die lieber anstelle einer solchen Diskussion anständigen Mathematikunterricht hätten, dass, wer an einem «Friday for future» lieber nach Stundenplan Schule hätte, sich als Minderheit für das natürliche institutionelle und von Steuerzahlenden finanzierte Recht auf Ausbildung, auf Unterricht einsetzen müssen, und dass schwänzende Schülerinnen und Schüler, wenn es um das «richtige Anliegen» geht, ohne Konsequenzen davonkommen. Dabei hat doch der Kantonsrat Jokertage auch für Kantonsschülerinnen und Kantonsschüler eingeführt, die man für den Klimastreik verwenden könnte.

Ich bin nicht gegen politische Lehrpersonen oder Diskussionsanregungen in Lehrmitteln. Ich glaube, dass Jugendliche sehr wohl abstrahieren können, dass gesellschaftliche Fragen in der Schule diskutiert werden müssen.

Aber es gibt Grenzen: Zum Beispiel eben, wenn die Institution Schule als Ganzes durch toleranteres Verhalten fürs Schwänzen je nach Streikgründen Stellung bezieht, statt unentschuldigte Absenzen festhält. Oder wenn Minderheitsmeinungen in einer Mehrheitskultur nicht gestärkt werden. Wenn die «richtige Meinung» Kulturbestandteil ist, um zur Gemeinschaft zu gehören, wenn im Unterricht gesellschaftskritische Themen Vorzug haben.

Wer seit den 60ziger-Jahren je eine Kantonsschule besuchte, weiss, dass viele Lehrpersonen, nicht alle, eher «links ticken» und hat ein paar diesbezüglichen Erlebnisse. Das kann man nicht ändern – es gilt die freie Meinung. Was nun aber Aargauer Kantonsschüler in einer Maturitätsarbeit feststellen, ist, dass die Mehrheitskultur andere Meinungen erstickt, weil sich bürgerlich denkende Jugendlichen in konstant ungestützter Minderheitsposition befinden, weil eben die politische Haltung ein Ausschlusskriterium sein kann. Als Lehrperson dürfen Sie niemals nur zur Kenntnis nehmen, dass meinungsandere Schülerinnen und Schüler nicht im Trend sind, sie müssen die Meinungsvielfalt fördern, unabhängig von ihrer eigenen Meinung, indem allen Meinungen der Rücken gestärkt wird.

Eine Untersuchung wird – egal wie die Untersuchung herauskommt – bewirken, dass die Schulen hinschauen müssen, und nur schon dadurch achtsamer werden. Diese Achtsamkeit ist ein Gewinn für Alle. Da kann man nicht dagegen sein.»


Leider wurde das Postulat mit 89 zu 78 Stimmen abgelehnt.