Jürg Jenatsch

Gedanken zum Jahreswechsel 2003 und zum Roman von Conrad Ferdinand Meyer

 

Conrad Ferdinand Meyer

Am vergangenen 28. November vor 104 Jahren starb Conrad Ferdinand Meyer. Verschiedene Zeitungen widmeten Meyer mehrere Seiten, stellten ihn seinem Antipoden, dem geradlinigen Gottfried Keller gegenüber, erläuterten den entsprechenden Briefverkehr, schrieben über den Gegensatz zwischen Meyers Heldengestalten und seinem grossbürgerlich-abgeschirmten, psychisch zerbrechlichen Leben, oder über sein Verhältnis zu Frauen. Erwähnten auch die Landesliebe, die Meyer in seinen Gedichten schimmern liess.

Die Kritiker

„Landesliebe“, Ehrfurcht vor (nicht Vergötterung von) Landschaft und Leuten im Sinne Meyers ist eine Gabe, die manchem „Intellektuellen“ heute fehlt. Der Zauber der Landesliebe wird als „statisch“ oder gar „rückwärtsgewandt“ demaskiert, „echte Landesliebe ausüben“ heisse kritisieren, denn nur Kritik bewegt, und „Bewegung per se“ sei schon gut. Die Schweiz existiert nicht: Dieser Satz, von „modernen“ LiebhaberInnen unseres Landes an die Weltausstellung 1992 in Sevilla gepflanzt, hätte zweifelslos bewegen sollen. In welche Richtung?

Welche Richtung?

Über diese sind wir uns durchaus nicht einig. Es wäre müssig, zum Nachweis die politischen Differenzen zum Beispiel in der Europapolitik, Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik aufzuzählen. Es ist nicht die Landesliebe die statisch macht, sondern die Vielzahl der Richtungen. Und das ist gut so!

Unser Land hat deshalb die Qualität, gegen vorschnelle Schritte gefeit zu sein. Es bedarf Überzeugungskraft und Engagement, wenn man es bewegen will, denn seine Bewegung wird vom Volk getragen. Leute, die bewegen, müssen sich für eine Richtung entscheiden (bereits dies wollen viele nicht), müssen dann die Mitbürgerinnen und Mitbürger davon überzeugen. Conrad Ferdinand Meyer gibt ein Beispiel. Jedenfalls bleibt er nicht alleine bei der schimmernden Grundlage der Landes- und Landschaftsliebe, er zeigt auch – am hundersten Todestag nur wenig besprochen – Richtung: Souveränität, Ehre und Freiheit, im „Jürg Jenatsch“.

Rechtfertigung politischer Ränke für heere Ziele

Dem Jürg Jenatsch gelang es, Bünden in den Wirren des dreissigjährigen Krieges in die Unabhängigkeit zu führen. Er erreichte dies, zumindest in Meyers dramatischer Prosa, kurz vor der eigenen Ermordung, denn seine Leidenschaft schuf ihm Feinde. Obwohl studierter, blitzgescheiter reformierter Pfarrer lebte und blutete er für die wilde Idee „Freiheit für Bünden“. Rückschläge, darunter auch die Ermordung seiner Frau, brachten ihn davon weg, sein Ziel auf dem Weg der Moralisten zu erreichen. Er verliess sein Pfarramt im Veltlin, lernte das Kriegshandwerk, wurde im Dienst der Franzosen Oberst, verriet seinen gütigen und in den Bünden geliebten Herzog an die Spanier, weil die Franzosen Bünden nicht freigeben wollten. Zweckdiktiert wechselte Jenatsch seine Konfession, wurde katholisch. Wohl wandte er sich, dies schillert durch Meyers Zeilen, nicht ab von Gott: Freiheit, Unabhänigkeit obschwingen als heerere Ziele die gesellschaftsmoralischen Unversehrtheit.

Ein guter Liebhaber lebt Leidenschaft

Jenatsch hatte die Bündner meistens hinter sich. Friede und Ruhe war Bedürfnis, die ewigen Scharmützel zwischen Franzosen und Spanier-Österreicher machten Bünden kaputt. Kann man es einem Landesliebenden übelnehmen, wenn er sich letztlich für Frieden in Leidenschaft ergiesst, kämpft und den Moralkodex der gängigen „Classe politique“ als Günstlings-Stromsschwimmen demaskiert (wie im „Jürg Jenatsch die Figur des Fortunatus Sprecher)? Ein guter Liebhaber lebt Leidenschaft.

Bewegung und Wahljahr

Um unser Land zu bewegen ist es falsch, wenn „Landesliebe“ statisch wirkt und deshalb kritisiert wird. Forunatus-Sprechertum muss demaskiert werden. Die Zeit für viele leidenschaftliche Jenatschinnen und Jenatschs in der Politik ist reif (Wahljahr 2003!), und für die brauchbaren von denen, davon bin ich überzeugt, liegt die Zukunft des geliebten Landes in Unabhängigkeit und Freiheit.

Matthias Hauser