Olympia: Wohl durch Sport oder Politik?

Gastkommentar im Wochenspiegel. Erwähnte Links im Anschluss an den Text.

 

Riesig, farbig, spektakulär: Die Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele in London am 27. Juli hielt mich vor dem Bildschirm gefangen, ich verfolgte den Einzug der Athleten aus allen 204 Nationen. Emotional (Politiker sind auch Menschen) berührte mich, dass darunter Ländern waren, die miteinander jahrelange Konflikte austragen (Palästinensische Autonomiegebiete, Israel), in denen gerade Krieg herrscht (Sudan, Syrien) oder Hungersnöte. Schurkenstaaten und Weltpolizisten, arm und reich friedlich nebeneinander. Noch während der Parade publizierte ich folgenden Satz im Internet:

„Eröffnung der Olympischen Spiele: Ich sehe Nationen, starken Stolz, verschiedene Kulturen. Keinen Krieg, keine Armut. Sport enthält mehr Zukunft als Politik“.

Sofort – im Internet können Leser das mit einem einzelnen Klick auf einen “like-Button“ ausdrücken – erhielt der Satz Zustimmung.

Später in der Nacht begann mich mein Satz zu ärgern. Stimmt das? Enthält Sport mehr Zukunft als Politik? Geht es auch ohne Politik? Setze ich als Kantonsrat und Parteipräsident auf das falsche Ross? Hätte ich stattdessen Sportler werden sollen? Tun Sportler – regionale, kantonale, nationale und internationale – jeder auf seiner Ebene, mehr für das Wohl der Menschen?

Zwei Tage später publizierte ich folgendes:

“Vergass bei meinem letzten Satz, dass es auf der Welt noch grössere Showblocks gibt“.

Leser, die den Satz anklickten, wurden zu einem Dokumentarfilm über Nordkorea geführt, der mit einer Feier im grössten Stadion der Welt, dem „1. Mai Stadion“ von Pjöngjang, beginnt. 150’000 Zuschauerplätze, an Feiern darin (z.B. am jährlich stattfindenden Arirang-Festival) beteiligen sich bis zu 100’000 Tänzer und Statisten, Jugendliche, Kinder, die sechs Monate nichts anderes tun als ununterbrochen üben. Im Film geht es jedoch um die Konzentrationslager in Nordkorea.

Konzentrationslager in Nordkorea – Yodok

Konzentrationslager? Heute? Nordkorea nimmt an des Olympischen Spielen teil, wie jedes andere Land. 200’000 Menschen in Nordkorea stehen morgens um vier und Uhr auf, dürfen ihre Kleider jahrelang nicht wechseln, teilen ein WC mit 200 anderen, erhalten zu wenig Essen, und wenn sie deshalb eine Beere pflücken, werden sie gefoltert, arbeiten in Minen, wer versucht zu flüchten, wird vor den Augen der anderen Gefangenen erhängt und die Kinder im Lager müssen Steine auf die Leichen werfen: Politische Gefangene, Angehörige von Flüchtlingen, einzelne, die es wagten, für die katastrophale Hungersnot die Verwaltung als verantwortlich  zu bezeichnen und solche die in den Lagern geboren sind. Googeln Sie im Internet nach dem Stichwort „Yodok“ – und Sie finden die Informationen, Sie können nordkoreanischen Konzentrationslager auf Satellitenbildern erkunden. China – die neue Wirtschaftsmacht – schickt Flüchtlinge aus Nordkorea zurück in den Tod. Der Kontrast zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele ist gewaltig. Die Welt ist nicht so, wie sie in London gezeigt wird. Flüchtet ein Athlet aus dem nordkoreanischen Team, wird seine Familie hingerichtet. Bis jetzt, wo ich diesen Text schreibe (10. August) hat Nordkorea bei den Olympischen Sommerspielen vier Goldmedaillen, China 37.

In Aleppo wird auf Teile der Bevölkerung geschossen, während die syrischen Athleten in London ihre Nation vertreten. In Mali wird verhungert, auf den Philippinen ertrunken und im Sudan werden Christen massakriert. In London wird gefeiert.

Die Politik steht vor solchen Tragödien oft ohnmächtig – und doch sind es Regierungen, Verwaltungen, die Parteien und auch Armeen, die Handeln und aus der jeweiligen Perspektive versuchen, die Welt zu verbessern: Absprachen treffen, Rechtsgrundlagen – auch für Private – schaffen, Hilfsgüter organisieren, Beobachter schicken, etwas durch Wirtschaftshindernisse oder Gewalt erzwingen. Auch Olympische Spiele werden durch die Politik ermöglicht: Beispiele: Bau und Finanzierung der gesamten Infrastruktur (das gilt bei uns für jede Turnhalle), für die Sicherheit in London sind 13’500 Soldaten und 10’000 Polizisten im Einsatz. Man kommt zum Schluss: Ohne Politik kein Sport.

Selbst die Vorgänge im Internationalen Olympischen Komitee sind irgendwie politisch: Zum Beispiel die Wahl der Austragungsorte, die Wettbewerbsreglemente: Wahlen und Verhandlungen.

Parteien: Mitgliederzahlen wie Sportvereine

Der in emotionaler Stimmung publizierte Satz „Sport enthält mehr Zukunft als Politik“ ist also falsch. Und doch: Die Menschen, die in London ihr Land repräsentierten, stehen zu ihren Geschichten, ihren Kulturen, ihren Farben. Sie kämpfen stolz für ihre Nationen und sind trotzdem friedlich. Es geht zwar nur um Medaillen und nicht um Existenzen, aber trotzdem: Irgendwie ist der Einzug der Athleten im Olympiastadion eine Art Modell für die Menschheit. Idealzustand. Der Weg dorthin aber ist politisch – und beginnt vor der eigenen Haustür. Und deshalb wäre es nett, Wahlen und Abstimmungen hätten ähnliche Beteiligungen, wie die Eröffnung der Olympischen Spiele Einschaltquoten und Parteien Mitglieder wie Sportvereine.

Links zum Text

Erwähnter Film („Yodok Stories“): http://www.snagfilms.com/films/title/yodok_stories

Konzentrationslager auf „google maps“:  http://goo.gl/maps/Xd37Q
(von Nahe anschauen)

Yodok in der Weltwoche Nr. 17/2012: https://sandbox1.ackle.ch/wordpress/matthias-hauser/wp-content/uploads/2012/05/straflagernordkorea.pdf