Oberstufe: Reform an Lösungen vorbei

Der Bildungsrat beschloss am 3. Dezember 2007 ein Entwicklungsprozess zur Sekundarstufe. Er gibt dabei Ziele vor: Einheitliche Zürcher Oberstufe, Erhöhung der Durchlässigkeit und Steigerung der Integrationskraft. Illustriert wird der Reformbedarf mit den Schwierigkeiten, welche Sek-C Schülerinnen und Schüler bei der Lehrstellensuche haben.

Oberstufenreform schafft keine Lehrstellen

Es ist ein Irrtum, mit einer neuen Struktur der Oberstufen die Chancen der Leistungsschwächsten auf dem Lehrstellenmarkt verbessern zu können. Der Markt wird bestimmt durch Zahlen suchender Schulabgänger und angebotener Lehrstellen, wofür Konjunktur und die rechtlichen Rahmenbedingungen der Berufsbildung entscheidende Faktoren sind. Die Volksschule beeinflusst einzig, indem die Motivation eine Stelle anzubieten mit der Leistungsfähigkeit der Schulabgänger steigt und via Berufswahl. Durchlässigkeit und Integrationskraft schaffen keine Lehrstellen.

Im vergangenen Jahrzehnt wechselten einige Schulgemeinden das Oberstufenmodell mehrfach. Noch werden in vielen Schulen Schulleitungen eingeführt, gleichzeitig werden Kleinklassen aufgehoben und Jugendliche mit sonderpädagogischen Bedürfnissen integriert und die Reform des neunten Schuljahres umgesetzt. Lehrbetriebe vermissen Verlässlichkeit; Konstanz statt Reformitis.

Sinkendes Leistungsniveau, zunehmende Erziehungsaufgabe

Die Hektik der Bildungspolitiker und der Schulalltag zeigen aber, dass irgendwo der Wurm in der Oberstufe steckt. Die Probleme sind das sinkende Niveau, die zunehmende Erziehungsaufgabe (= zunehmende Disziplinlosigkeit, mangelndes Arbeitsverhalten), die Defizitorientierung bei kognitiv Schwächeren und die sinkende Attraktivität des Lehrberufes.

Zur Erhöhung des Niveaus auf allen Abteilungen der Oberstufe braucht es verbindliche Jahreslernziele und leistungsorientierte Übertrittsverfahren. Bei Disziplinlosigkeit und mangelnder Arbeitshaltung müssen Behörden und Lehrpersonen die Pflicht und Kompetenz haben, Erziehungsmassnahmen anzuwenden. Und noch wichtiger: Jugendliche brauchen erwachsene Bezugspersonen, die sich verantwortlich fühlen und es auch sind. Erziehung ist Beziehung (Aufnahme der Funktion “Klassenlehrperson“ in den Berufsauftrag). Je grösser die Durchlässigkeit, desto rascher der Fall nach unten und desto kleiner der Halt in “Krisen“ der Pubertät. Es war ein Fehler, dass man aus der Oberstufe eine dreijährige Probezeit gemacht hat. Zwanzig Mutationen pro Klassenzug sind selbst an der dreiteiligen Sekundarschule keine Seltenheit und schaffen Unruhe; es ist mir ein Rätsel, wie der Bildungsrat als Problem der Oberstufe ernsthaft “mangelnde Durchlässigkeit“ postulieren kann.

Praktische Stärken fördern

Zu Gunsten der Durchlässigkeit sind kognitiv schwächere Jugendliche heute gezwungen, in den gleichen Fächern mit genau der gleichen Anzahl Lektionen abzuschliessen, wie die Leistungsfähigsten. In den anforderungsreichsten Abteilungen werden so Stärken gefördert, die übrigen orientieren sich an Defiziten. Der Lehrstellenmarkt misst alle am gleichen Leisten: Chancengleichheit verwandelt sich in Chancenlosigkeit. Chancengerechtigkeit wäre, wenn auch Schülerinnen und Schüler in kognitiv anforderungsärmeren Niveaus ihre Stärken ausbilden dürften. Sie wären in der Lage, mit hohen praktischen und kreativen Kompetenzen als echte Konkurrenten um Lehrstellen aufzutreten.

Diese “inneren“ Reformen erfassen Lehrplan und Lektionentafel, Berufsauftrag und die Lehrerbildung. Sie brauchen keine Veränderung der Oberstufenmodelle. Der Fokus auf Durchlässigkeit und Integrationskraft lenkt die Reform an den Problemen vorbei.

Städtischer Salamitaktiker im Bildungsrat

Um die Ziele, welche der Bildungsrat vorgibt, wurde vor 15 Jahren ideologisch gestritten. Wer eine leistungsorientierte Schule wollte, in welcher Kinder enger betreut sind, kämpfte für die Dreiteilige, wer Chancengleichheit und Individualisierung hoch gewichtete, für die gegliederte Oberstufe. Jede Schulgemeinde musste sich entscheiden, zwei Drittel wählten die Dreiteilige und alle Schulen passten sich der Praxistauglichkeit an. Mit dem neuen Volksschulgesetz erhielten entstandene Varianten eine Gesetzesgrundlage, gleichzeitig wurde die Kompetenz zur Festlegung der Struktur von den Gemeinden auf die Schulbehörden übertragen: Deshalb ist es heute möglich, die Oberstufe am Volk vorbei zu ändern, so wie dies die Schulpräsidenten der Stadt Zürich ohne Diskussion beschlossen. Einer davon, Ernst Weibel, ist gleichzeitig Salamitaktiker im Bildungsrat. Nur: Es dient nicht den Interessen einer guten Schule, alten Ideologie nachzuhängen, statt echte Probleme zu lösen.