Nachteilsausgleich behält Aspekt des Etikettenschwindels

Es kann sein, dass bei Prüfungssituationen im selben Unterricht einige Kinder mehr Zeit beanspruchen dürfen, als andere. Dass einige in einem eigenen Raum ohne jede Ablenkungsmöglichkeit geprüft werden, dass einige zum Aufsatz das Rechtschreibeprogramm benützen dürfen. Trotzdem werden alle gleich benotet, Zeugnisse und Promotionsnoten (z.B. Probezeit Mittelschulen) zeigen keine Unterschiede, man merkt ihnen die verwendeten Hilfen nicht an. Die Ursache dieser Ungerechtigkeit allen anderen Kindern gegenüber ist ein falsch verstandener Nachteilsausgleich. Der Kantonsrat und die Bildungsdirektion lehnten mein Postulat, das klarere Richtlinien verlangte, ab. Postulat «Kein Nachteilsausgleich bei kognitiven Schwächen». Hier mein Votum zum Geschäft:

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Frau Bildungsdirektorin,
sehr geehrte Ratskolleginnen und Ratskollegen

Dieses Postulat will den Nachteilsausgleich nicht schwächen, geschweige denn abschaffen, sondern im Gegenteil, stärken. Dies indem er gerechter und dadurch pädagogisch breiter akzeptiert wird.

Wo liegen den die Mängel in der heutigen Praxis des Nachteilsausgleiches?

Um das zu verstehen, müssen Sie wissen, dass, wer Nachteilsausgleich erhält, im Gegenzug normal, so wie alle anderen Schülerinnen und Schüler auch, beurteilt, benotet und allenfalls dadurch in eine höhere Schulstufe empfohlen wird, respektive die Eintrittsbedingungen erfüllt. Auch eine Aufstufung innerhalb eines einzelnen Niveaufaches an der Sekundarstufe müsste dann bei entsprechenden Noten gewährt bleiben. De jure.

So wie der Nachteilsausgleich heute gelebt wird, erhält nun z.B. eine Schülerin oder ein Schüler mit Legasthenie die Erlaubnis, den handschriftlichen Aufsatz auf einem Computer unter Verwendung eines Rechtschreibeprogrammes zu schreiben, maschinell korrigiert. Bei ihm wird die Rechtschreibung somit nicht gewichtet, bei allen anderen Schülerinnen und Schülern, unter denen einzelne sicher auch Mühe haben mit der Orthografie oder dem Schriftbild, hingegen schon. Sie können dank der Orthografie und dem Schriftbild eine tiefere Note erhalten, der Legastheniker nicht. Das ist ungerecht. Und das bildet auch nicht die tatsächlichen Verhältnisse ab.

Ein zweites Beispiel ist der Jugendliche, der grosse Mühe mit der Konzentration, der zielgerichteten Aufmerksamkeit, hat.

An einer Mathematikprüfung, wo es vielleicht darum geht, in Kürze den gleichen Algorithmus mit verschiedenen Zahlen anzuwenden, hat ein abgelenkter Schüler nur wenig Chancen. Deshalb kann er oder sie zum Nachteilsausgleich alleine in einem Raum und ohne Zeitbegrenzung dieselbe Prüfung absolvieren.

Unter diesen Bedingungen wären aber alle anderen Jugendlichen auch zu besseren Resultaten fähig. Der Nachteilsausgleich zeigt sich hier deshalb ungerecht.

Ein Mensch mit einem Handicap hat naturgemäss im Bereich des Handicaps, wenn beim Legastheniker die Rechtschreibung, wenn beim Unkonzentrierten die Konzentration, wenn beim Gehbehinderten das Gehen und beim Hörbehinderten das Hören gemessen wird, eine Benachteiligung. Darüber darf man doch bei Beurteilungen nicht Hinwegsehen!

Hingegen ist es selbstverständlich völlig in Ordnung, absolut unbestritten, dass eine Matheaufgabe einem Blinden in Brailleschrift oder mündlich gestellt wird, dass ein Hörbehinderter Hörhilfen oder eine Übersetzung in Gebärdensprache erhält, dass ein Legastheniker, wie alle anderen Schülerinnen und Schüler auch, nicht im logischen Denken und nicht in Mathe, nicht in Naturkunde und so weiter auf Grund der Rechtsschreibung beurteilt wird, weil Rechtschreibung, die Schwäche des Legasthenikers, IST kein mathematisches Kriterium. Ich versuche das noch an einem fiktiven Beispiel klarer zu sagen:

Ein Gehbehinderter darf nicht in das Kader der 100-Meter-Sprinter eintreten, nur weil er zur Qualifikation den Rollstuhl benützen durfte und eine Zeitgutschrift erhielt.
Ein Gehbeinderter soll aber sehr wohl an der Schachmeisterschaft teilnehmen können, auch wenn diese in einem nur durch Treppen zugänglichen Raum stattfindet: Ein Lift wäre hier der Nachteilsausgleich.

Der Unterschied zwischen diesen konstruierten Situationen ist deutlich. Weder in der Praxis noch in den Richtlinien und Broschuren der Bildungsdirektion jedoch wird diesem, wenn es um kognitive Behinderung geht, differenziert Rechnung getragen.
Dieses Postulat will nichts anderes, als dass dies künftig verbessert wird. Eine klare Definition des Nachteilsausgleichs führt zu einem gerechteren Umgang damit, und zu einem ehrlichen Umgang mit Behinderung.

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